„Rollläden werden jetzt konsequent unten gelassen. Ein paarmal heftig dagegengeschlagen, heftig getrommelt und sofort zurückgezogen in Unterschlupf und gewartet.“ Juan S. Guses Debütroman „Lärm und Wälder“ erzählt von großen Ängsten der Menschen: Verfall und Verlust von Kontrolle.
Ein unabhängiger Bürger, der es versteht, sich selbst, in Autarkie, am Leben zu halten – ungefähr so lautet der größte gemeinsame Nenner vieler Definitionen eines Preppers (von to prepare/to prep, sich vorbereiten/ausstatten) im Internet. Preppen ist im Trend, es existieren etliche Seiten im Netz, mit Hilfe derer man das Überleben in Autarkie erlernen kann. Längst gibt es Print-Magazine und in einer der quotenstärksten britischen Real-Life-Serien wird ein aufgedrehter Ex-Soldat mit Hubschraubern in der Wildnis ausgesetzt, um Überlebenskunst zu demonstrieren. Pfadfindertum 2.0 könnte man sagen. Der Prepper glaubt an eine reale Bedrohung des Systems, in dem er lebt, zum Beispiel durch die Umwelt und politische Umbrüche. „Denn die Wirklichkeit ist ein einstürzendes Haus“, findet Hector. Hector ist Prepper und Protagonist in Juan S. Guses erstem Roman „Lärm und Wälder“ – ein Roman, der die Wahrnehmung schärft.
„Und wer sich nicht diesen Einsturz, diesen Einbruch des Realen schon Tausende Male in den verschiedensten Varianten selbst erzählt und ausgemalt hat, kann der Wirklichkeit nur hoffnungslos ausgesetzt sein, kann nur unter ihren Trümmern verschüttet werden.“
Der Verfall ist nicht mit bloßem Auge sichtbar, er kommt schleichend. So wie in dieser Dystopie.
Pelusa und Hector leben mit ihren Söhnen in einer künstlich angelegten Gated Community im lateinamerikanischen Nordelta. Hier gibt es Wachpersonal, Schranken und Zäune. Alles steht unter der Aufsicht einer zentralen Verwaltung, die einen künstlichen Ort mitten in der Wildnis geschaffen hat. Hier sei man sicher, heißt es. Doch kaum merklich bröckelt die Fassade der Stadt. Draußen vor den Mauern kommt es zu Aufständen.
Etwas verfällt in der Welt des Romans, etwas löst sich auf, wird weich, sumpfig, fällt in sich zusammen. Jeder merkt es bereits. Mit einem beeindruckenden Gespür für Spannungsbögen flicht Guse Zeichen dieses Verfalls ein. „Es ist der feuchte Boden, das nah gelegene Delta saugt die Häuser auf. Henny weiß es, er kann es jeden Tag sehen. Die Erde verschlingt sie, löst sie auf wie Vitamintabletten.“ Es scheint, als fordere die Natur das zurück, was ihr der Mensch heimtückisch gestohlen hat. „[Die teichgroßen Pfützen] haben sich braungelb gefärbt und fressen sich Tag für Tag unaufhörlich in die Asphaltinseln hinein, bis diese an den Rändern einstürzen und versinken.“ In Bildern wie diesen erzählt uns der Preisträger des 20. Open Mikes, einer wichtigen Bühne für junge Autoren, vom Untergang der Zivilisation. Er ist nicht laut und prischt nicht vor, dieser Untergang. Vielmehr ist es ein subtiles Brodeln unter der Oberfläche, das manchmal hochkocht, um schließlich wieder für unbestimmte Zeit von der offensichtlichen Idylle verdeckt zu werden.
Guse schafft es in beiden Teilen mit Sprache, einen Einblick in das jeweils sehr subjektive, verschiedenartige Unbehagen oder auch in die innersten Wünsche und Vorstellungen der Charaktere zu geben. „Henny glaubt, dass Pinocchio dort unten, in den Gedärmen des Wals, eine Schreinerei aus den an die Ufer des Magens gespülten Planken verschlungener Schiffe hätte bauen und Kinder wie sich selbst erschaffen und sich von ihnen zum Bürgermeister dieser Unterwasserstadt hätte küren lassen sollen, während dann vor seinen Augen eine hölzerne Stadt aus dem Nichts erwächst, Gassen sich bilden, Marktplätze, Kirchen und ein Rathaus für ihn entsteht, eine Statue, Pinocchio, den Hammer locker in der herunterhängenden Hand haltend, mit der anderen in die ewige Dunkelheit des Ozeans, in der sich der fleischfarbene Himmel verliert, deutend.“
Ein zweiter Erzählstrang, der die Handlung in Nordelta kapitelweise unterbricht, macht Guses Debüt zu einer kopfzermarternden Denkaufgabe, für die es nicht die eine Lösung gibt. Hier leben Pelusa und Hector in den Anden, inmitten der Wildnis. Auf den ersten Blick muss dies die Vergangenheit sein. Doch können die beiden Geschichten tatsächlich so chronologisch gelesen werden? Vielmehr scheinen sie kongruent, lassen sich wie Schablonen aufeinander legen. Gleichzeitig strotzen die beiden Handlungen nur so vor absurden Widersprüchen. Zum Beispiel liebt Pelusa Hunde in der Gegenwart, trotz eines traumatischen Erlebnisses in den Anden. Neben dem Motiv des Hundes ist auch der Glaube Teil beider Erzählstränge, in Form eines Massenmörders und als missionarische Predigerin. In beiden Geschichten geht es um das Gewappnet sein. Die Bedrohung kündigt sich jeweils subtil und gänsehauterregend an, bis wir dem Protagonisten in die vermeintliche Sicherheit folgen – auf ein Dach und unter die Erde. Was ist wirklich passiert und was geschieht nur in Hectors Kopf? Spätestens jenseits der Seite 300 beginnt das große Blättern, wenn klar wird, dass man manches doch bereits an anderer Stelle im Buch gelesen hat, aus anderem Blickwinkel. Wechselnde Erzählperspektiven lassen an allem Geschehenen zweifeln.
Es geht um Verfall und um den Verlust von Kontrolle, um die großen Ängste der Menschen. Und es geht um das Erzeugen von scheinbarer Sicherheit. „Er rennt davon. Unfassbar ist das Gefühl, als hätte sich ihm gerade die Realität offenbart, eine gesteigerte Form von Klarheit, als hätte er seine Hand ausgestreckt und die Wand zwischen ihm und der Wahrheit wäre wie eine schlechte Kulisse umgestürzt und die dahinterliegenden Fäden, die die Welt zusammenhalten, und die Kräfte, die sie verschieben, wären für einen kurzen Moment sichtbar geworden, in dem alles, was er tat, einen Sinn hat, zum ersten Mal in seinem Leben. Es ist, als walte jetzt wieder die Logik der Natur über die Welt.“ Voll bitterer Ernsthaftigkeit führt uns Guse in „Lärm und Wälder“ das Paradoxon vor, nach welchem der Mensch in einem Moment des vollkommenen Kontrollverlusts und Chaos’ das höchste Gefühl der Kontrolle und Sicherheit empfinden kann.
Juan S. Guse: Lärm und Wälder. Roman. S. Fischer 2015. 19,99 Euro. ISBN: 978-3-10-002434-3.
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