Übersetzung ist die Kunst, die Gedankengänge eines anderen zu verstehen und in einer anderen Sprache zu formulieren. Dafür braucht es vor allem Zeit und starke Nerven.
Paulina Schulz arbeitet als Literaturübersetzerin, freie Schriftstellerin, Gutachterin für viele deutsche und polnische Verlage und ist als Dozentin an mehreren Hochschulen tätig. Seit 2015 ist sie Herausgeberin der Reihe „Neue polnische Literatur“ im freiraum-verlag, in dem sie außerdem ihr jüngstes Werk „Das Eiland“ veröffentlichte. In den letzten Monaten übersetzte sie Janoschs Biographie „Wer fast nichts braucht, hat alles“, die im Frühjahr 2016 im Econ Verlag erscheinen wird. Bei soviel Verantwortung und Arbeit bleibt kaum Zeit zum Luft holen, doch wenn sie sich eine Pause gönnt, widmet sie sich mit großem Interesse der Lektüre über Astrophysik, Kosmologie oder Evolutionstheorie. Im Interview spricht Paulina außerdem über ihre Arbeit als Übersetzerin, die beruflichen Herausforderungen und über den Stellenwert der Übersetzungsarbeit im deutschen Literaturbetrieb.
Nachdem du 1989 nach Deutschland gezogen bist, hast du neben Prosa, Film und Dramatik im Hauptfach Übersetzen am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Inzwischen hast du zahlreiche polnische AutorInnen ins Deutsche übersetzt. Inwiefern würdest du sagen, war das Studium hilfreich für dich?
Das Studium der „Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens“ war ein absoluter Segen für mich. Ich war erst seit einigen Jahren in Deutschland, war mir noch nicht sicher, was ich genau im Leben machen will (Etwas mit Sprachen? Etwas mit Literatur?), und da begegnete ich am DLL Professor Werner Creutziger, der mir die Welt des literarischen Übersetzens eröffnete. Da ich die einzige war, die Übersetzen als Hauptfach gewählt hatte, war unser Unterricht sehr intensiv, sehr vielfältig und bereichernd, und ich habe bei Herrn Creutziger enorm viel gelernt.
Denn es genügt nicht, zwei- oder mehrsprachig zu sein, um gut übersetzen zu können: Man muss eine stabile theoretische Basis aufweisen, um zu wissen, wovon man bei seiner praktischen Arbeit ausgeht und wie man seine translatorischen Entscheidungen begründet. Auf jeden Fall weiß ich, in welcher Tradition ich stehe und welche Übersetzer meine Vorbilder sind, das ist ein schönes Gefühl.
Worin siehst du die Herausforderung, belletristische Literatur zu übersetzen? Was macht eine gute Übersetzung aus?
Eine gute Übersetzung sollte so genau wie nötig und so frei wie möglich sein. Das zu schaffen, ist schon eine Herausforderung. Hinzu kommt die Herausforderung, sich bei jedem Buch in die Denkart eines neuen Autors und in seine Welt einzuarbeiten. Das hat für mich viel vom Schauspielen zu tun – ich muss in eine andere Rolle schlüpfen, eine Person kreieren, ihre Sprache und Eigentümlichkeiten kennen, um diese möglichst präzise wiederzugeben.
Obwohl der Übersetzende auch Produzent eines Original-Kunstwerkes ist, nimmt dieser immer noch eine eher isolierte Position im deutschen Literaturbetrieb ein. Worin mag das deiner Meinung nach liegen?
Das kann ich mir immer noch nicht erklären, nicht nach fast 15 Jahren im Betrieb, nicht angesichts der engagierten Arbeit des Übersetzerverbandes und der Übersetzeragenten. Dabei wird ein Großteil der uns in Deutschland vorliegenden Bücher aus anderen Sprachen übertragen – ich frage mich, ob das dem Leser nicht bewusst ist? Zumindest sollte es aber den Journalisten und Literaturkritikern klar sein. Jedoch:
Die Übersetzer eines fremdsprachigen Werkes werden so gut wie nie bei den Rezensionen erwähnt, geschweige denn wird ihre Arbeit adäquat besprochen – die literarische Übersetzung findet im Feuilleton, insgesamt in den Medien, kaum statt. Ich weiß nicht, woran es genau liegt, dass sich die Rezensenten nicht trauen, an dem Punkt anzusetzen; dabei kennen wir erste übersetzungskritische Ansätze bereits bei Luther, und Wissenschaftler wie Goethe, Schleiermacher und Herder haben sich schon vor 200 Jahren mit der Frage des literarischen Übersetzens befasst. Also gibt es in Deutschland eine lange Tradition der Übersetzungskritik!
Ich stamme aus einem Land, in dem Übersetzer literarische Stars waren, weil sie uns die fremde Literatur näher brachten, uns ein Fenster in die Welt öffneten. Und auch heutzutage werden sie hochgeschätzt und gefördert. Von der Seite der Medien und vor allem der Verlage gibt es in Deutschland noch sehr viel nachzuholen; in erster Linie denke ich an Honorare und Verträge, die für die Übersetzer oft ungünstig sind – schlechte Konditionen, keine oder winzigste Beteiligungen, extrem knappe Deadlines etc. Davon kann jeder Übersetzer ein Lied singen. Und kaum ein Übersetzer kann alleine von dieser Tätigkeit leben. Und dies schlägt sich manchmal in der mangelnden Qualität der Übersetzungen nieder, vor allem in der englischsprachigen Unterhaltungsliteratur, wo ein enormer Konkurrenzdruck herrscht. Ein guter Text braucht Zeit, diese Zeit benötigt jeder, der an einem Buch sitzt: Autor, Übersetzer, Lektor. Zum Glück gibt es auch Verlage, die unsere Arbeit zu schätzen wissen und mit denen man gerne zusammenarbeitet.
Andererseits gibt es in Deutschland zahlreiche Preise, Förderprogramme und Stipendien für Literaturübersetzer; also wird ihre Arbeit durchaus geschätzt – nur ist sie wohl für das breite Publikum offenbar ohne Bedeutung. Welcher Leser schlägt schon bei einem frisch erworbenen Buch mit als Erstes den Namen des Übersetzers nach? Ich mache es immer und entscheide mich oft bewusst für Bücher, die von meinen Lieblingsübersetzern übertragen wurden, beispielsweise Rainer Schmidt für Englisch.
Ich empfehle übrigens die Seite: www.literaturuebersetzer.de
Inwieweit schlüpfst du als Übersetzerin in die Rolle des Autors? Betrachtest du das Werk auch als dein eigenes?
Da ich selbst auch Autorin bin, begebe ich mich zu Beginn der Arbeit am Text in eine ähnliche Position. Wenn auch ich als Übersetzerin das Buch zuerst auseinandernehme, es in seine Bestandteile zerlege, all die Elemente und die Codes untersuche – um das Werk am Ende neu zusammenzusetzen und neu zu schreiben. Mittlerweile – nach jahrelanger Erfahrung – gehe ich für mich davon aus, dass das Übersetzen im besten Falle lediglich Nachdichten sein kann. Ich glaube, dass wir Übersetzer uns in einer ähnlichen Position wie die Teilchenphysiker befinden, indem wir beharrlich versuchen, das Unbekannte, Unmögliche zu beweisen. Auf jeden Fall betrachte ich das literarische Übersetzen als eine eigene Form von Kunst und mich als Mitautorin des Werkes.
Du schreibst auch selbst Prosa und Lyrik. Interessant ist, dass du auf Deutsch schreibst und nicht in deiner Erstsprache. Inwiefern schärft oder beeinflusst das Übersetzen dein schriftstellerisches Sprachgefühl?
Das Polnische ist für mich die Sprache der Emotionen, der Familie, der Kindheit; sie steht ganz stark für das Gefühl. Das Deutsche, das ich erst mit ca. 17 Jahren erworben habe, ist für mich eine Sprache, die ich nicht automatisch übernommen, sondern mir erst angeeignet habe. So erlaubt sie mir einen gesunden Abstand, eine analytische Distanz zum Text, die für mich zum Schreiben notwendig ist. Ich betrachte das Deutsche als ein Werkzeug meiner Arbeit, ähnlich wie ein Handwerker, und ich mag es sehr. Es ist eine großartige, klare, präzise und dennoch sinnliche Sprache.
Das Übersetzen brachte mir die Möglichkeit des Spielens mit verschiedenen Stilen, und so kann ich auch an meinem eigenen Stil schleifen und neue Wege ausprobieren, indem ich in die Eigenheiten eines anderen Autors eintauche.
Im Februar 2016 erscheint Janoschs Biographie „Wer fast nichts braucht, hat alles“ im Econ Verlag, geschrieben von Angela Bajorek, übersetzt aus dem Polnischen ins Deutsche nun von dir. Wie entstand die Zusammenarbeit für dieses Buch?
Ich habe schon länger mit Ullstein / Econ zusammengearbeitet, als Gutachterin für polnische Literatur. Als ich die Janosch-Biographie auf den Tisch bekam, konnte ich gar nicht anders, als eine begeisterte Rezension zu schreiben. Kurz darauf bekam ich das Angebot, das Buch auch zu übersetzen – und sagte natürlich sofort zu. Man bekommt nicht jeden Tag ein solches Projekt auf den Tisch.
Wo liegt der inhaltliche Schwerpunkt des Buches? Wie ist es gestaltet?
Es befasst sich in erster Linie mit Janoschs traumatischer Kindheit in Schlesien und verfolgt seinen schwierigen Lebensweg. Umso erstaunlicher ist es, dass aus einem misshandelten Kind und einem traumatisierten Jugendlichen ein derart kreativer, optimistischer, freier Mensch geworden ist. Den Weg dieses Menschen mitzuerleben, war ein großes Privileg. Die Biographie beinhaltet außer Janoschs Lebensgeschichte einen großen Anhangsteil mit einem langen Interview, der deutschen Bibliographie, den Quellen, zahlreichen Fotos aus dem Archiv der Autorin und des Künstlers, sowie sogar einem Familienstammbaum.
Gibt es einen Unterschied zwischen der Übersetzung einer Biographie und eines Romans?
Es ist eine große Herausforderung und eine enorme Verantwortung, die Lebensgeschichte eines Menschen zu übertragen. Auch wenn für mich die literarischen Figuren schnell zu „echten Menschen“ werden, mit denen ich einige Monate lebe, erfordert es doch einen gewaltigen Recherche-Aufwand und eine hohe Präzision, das Leben eines realen Protagonisten nachzuerzählen. Die Übersetzung einer Biographie besteht zu ungefähr 50 % aus Recherche und Korrespondenz zwischen Protagonist, Biograph und Übersetzer.
Inwiefern war es für die Übersetzungsarbeit entscheidend, im Kontakt mit der Autorin Angela Bajorek zu stehen?
Es war für mich enorm wichtig! Angela hat mir sehr geholfen, indem sie mir den Kontakt zum Autor herstellte, mir ihre Materialien und Quellen zur Verfügung gestellt hatte und mir für alle Fragen zur Verfügung stand. Für den deutschen Leser musste ich auch große Teile des Werkes umschreiben bzw. neu verfassen. Ein paar Kapitel behandelten spezifisch polnische Themen, wie beispielsweise die Rezeption von Janoschs Werk in Polen. Da musste ich stark kürzen. Einige speziell deutsche Aspekte musste ich wiederum hinzufügen, auf einige Bücher und Fakten mehr eingehen.
Die Einfühlsamkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Autorin hat mir sehr dabei geholfen. Jeder andere Autor hätte sich wahrscheinlich dagegen gesperrt, so große Teile seines Werkes zu verändern bzw. neu schreiben zu lassen – Angela Bajorek und ich wussten aber, dass wir es für Janosch machen, damit dieses Buch so gut, so wahrheitsgetreu und so spannend wie möglich wird. Es war eine sehr angenehme und bereichernde Zusammenarbeit, zwischen Autorin, Protagonist, Verlag und Übersetzerin.
Ich habe gelesen, dass Angela Bajorek über 900 E-Mails mit Janosch ausgetauscht hat. Hat sie dir einen Einblick in ihren persönlichen Schriftverkehr gegeben?
Ja, zum großen Teil. Mittlerweile sind es über 1000 E-Mails, die unglaubliche, berührende Geschichte einer Freundschaft. Ich war sehr dankbar und gerührt, dass ich daran teilhaben durfte.
Kam es innerhalb der Arbeit an diesem Buch zu einem persönlichen Kontakt zwischen dir und Janosch oder ergab sich wohlmöglich auch ein Treffen?
Janosch ließ mir über die Autorin immer wieder E-Mails ausrichten, mit Worten des Dankes und der Ergriffenheit. Einmal schrieb er, dass er so glücklich mit dem Text sei, dass er weinen müsse. Er meinte, dass er sich nun eine Flasche Wein holen ginge, um sich unter einen Baum zu setzen und vor Glück zu weinen. Leider habe ich ihn noch nicht getroffen, doch es gibt Pläne, ihn anlässlich der Erscheinung der Biographie auf Teneriffa zu besuchen.
Übersetzen heißt vor allem auch lesen. Was liest du, wenn du nicht über beide Ohren in Arbeit steckst oder mal eine Pause einlegst?
Meistens lese ich – abgesehen von den Texten, die ich rein aus beruflichen Gründen lesen muss – mehrere Bücher gleichzeitig. Vor allem Sachbücher, aber auch gerne Psycho-Thriller, da ich den Einblick in die menschliche Natur und ein gutes Rätsel mag; dabei denke ich z.B. an die irische Autorin Tana French, oder die Romane des amerikanischen Subgenres Southern Noir, wie William Gay oder Wiley Cash.
Vor allem aber interessiert mich die Frage: Woher kommen wir, wer sind wir, wie erforschen wir unseren Raum und wie wird sich die Zukunft der Menschen als Spezies gestalten. Und da ist die Bandbreite meiner Lektüre sehr weit: angefangen bei Anthropologie, Mythologie, Evolutionstheorie, Religionswissenschaft, Paläontologie, Archäologie, über Bücher zu Expeditionen, Reisen, Raumfahrt, Kosmologie und vor allem Astrophysik. Die Entwicklung der Wissenschaft ist ein überaus spannendes Thema, und wann immer ich kann, informiere ich mich über aktuelle Problemstellungen.
Gerade lese ich „Im Eisland“, eine Graphic Novel über die Franklin-Expedition von 1845, den Bericht von Shackleton über seine Antarktis-Expedition 1914 – 1917, einen Krimi von Ruth Rendell sowie einen Reiseführer über das Baltikum.
Doch meine wahre Liebe gilt dem Film; ich schaue quasi in jeder freien Minute ;-)
Seit kurzem bist du auch als Herausgeberin im freiraum-verlag für die Reihe „Neue polnische Literatur“ tätig. Was können wir erwarten?
Großartige Bücher! Bisher wurde in Deutschland oft der Fehler gemacht, sich vor allem auf die Empfehlungen der polnischen Verlage zu verlassen und Bücher einzukaufen, die in Polen großen kommerziellen Erfolg gehabt hatten. Diese Tatsache darf man aber nicht 1:1 auf ein anderes Land übertragen, und so gab es eine Reihe von Büchern, die hier zwar veröffentlicht wurden, aber kein größeres Publikum angesprochen haben. Was schade ist.
Mir geht es darum, Bücher zu veröffentlichen, die zwar in Polen entstanden sind, allerdings überall verstanden und geschätzt werden, Texte von universeller Bedeutung, die uns alle packen. Ich schätze einfach gute Geschichten, und dabei ist mir egal, in welchem Land und in welcher Sprache sie geschrieben werden. Leider ist die mittel- und osteuropäische Literatur in Deutschland noch viel zu unbekannt – ich wünschte mir, dass in deutschen Buchläden ganz selbstverständlich tschechische, lettische, estnische, litauische, ungarische, bulgarische etc. Autoren stehen und auch gerne gekauft werden.
In der Reihe „Neue polnische Literatur“ sind seit Oktober 2015 der Kurzprosaband von Brygida Helbig „Ossis und andere Leute“ erschienen, ein herrliches, tragikomisches Buch über das Leben an der deutsch-polnischen Grenze vor und nach der Wende. Dann „Der Weg des Saturn“ von Błażej Dzikowski, ein großartiger, skurriler Roman über das Aufkommen des Faschismus unter jungen Menschen – gerade ja hochaktuell!
Im März 2016 folgt dann der erste Band der Retro-Krimi-Serie „Chroniken der Klara Schulz“ von Nadia Szagdaj, die über das alte Breslau schreibt und kürzlich sogar vom „Spiegel“ interviewt wurde.
Es folgen Romane, Essays, Reiseberichte, beispielsweise „Die Rückkehr auf den Broad Peak“, die Reportage über eine tragische Himalaya-Expedition des berühmten Journalisten Jacek Hugo-Bader. Weitere bekannte Autoren sind z.B. Antoni Libera, Magdalena Parys, Zygmunt Miłoszewski, Leszek Szaruga, Małgorzata Warda, Katarzyna Tubylewicz, Monika Piątkowska.
Vielen Dank für das interessante Gespräch, Paulina.
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