Kulturhauptstadt, Autorenhauptstadt, Theatermetropole. Selten hat sich jemand davor gescheut, große Worte zu bemühen, wenn es um Berlin und seine Kulturlandschaft geht. Was ist dran an Berlins Ruf, vor kultureller Vielfalt nur so zu strotzen? Wie lebt es sich hier als KünstlerIn, welche Förderinstrumente gibt es und welche Strukturen müssen dringend verändert werden? Eva hat Moritz Malsch und Dr. Ingrid Wagner zu Gesprächen getroffen und wollte wissen: Woraus besteht Berlins Literaturlandschaft, wo positioniert sich darin die freie Szene und was will diese in nächster Zeit erreichen?
Litaffin: Sie arbeiten nun seit 24 Jahren in verschiedenen Funktionen in der Kulturverwaltung der Stadt Berlin und beobachten seitdem die Strukturen der Literaturlandschaft. Wie sah diese unmittelbar nach der Wende aus?
Dr. Ingrid Wagner: Das Literaturforum (damals noch Brecht-Zentrum), das Kinder- und Jugendliteraturzentrum LesArt und die Literaturwerkstatt sind nach der Wende von meinem Vorgänger „gerettet“ worden, indem sie in eine institutionelle Förderung überführt worden sind. Man hat es damals geschafft, diese drei Einrichtungen, zusätzlich zum Literarischen Colloquium Berlin und zum Literaturhaus in den Verbund der Literaturhäuser aufzunehmen. Seit 1996 betreute ich diese und musste also sehen, wie sich differenzierte Profile herausbilden können. Der damalige Kultursenator hatte in der Literatur einen großen Teil der vorhandenen Stipendien gestrichen und bestimmte soziale Möglichkeiten, wie Künstlersozialförderung und Reisestipendien, sind weggefallen. Das heißt, wir hatten damals fast ein Rudiment von Fördermaßnahmen – und eben diese Häuser.
Angefangen habe ich mit einem Runden Tisch an dem alle Einrichtungen teilnahmen. Dort haben wir diskutiert, wie sie in der Stadt zusammen wirken können, um ein Flächenprogramm für die Klientel zu gestalten. Insofern war es günstig, dass sie alle in verschiedenen Bezirken saßen. So konnte man die Parallelförderung begründen. Das war eine ganz schwierige Zeit, die aber gut überstanden wurde, weil die Einrichtungen wirklich kreativ wurden und ihre Profile geschärft haben. Heute besteht diese Landschaft immer noch so, wie sie damals nach der Wende eingerichtet worden ist.
Litaffin: Wie hat sich im Vergleich dazu die Freie Szene entwickelt?
IW: Es gab eine Reihe von Abonnenten auf ständige jährliche Projektförderung, da gab es z.B. ein Programm, das nannte sich Lesehonorare und war eigentlich gedacht für Buchhandlungen. Zudem gab es Einrichtungen wie den Buchhändlerkeller in Charlottenburg und Britta Gansebohms Lesesalon, die von uns regelmäßig Zuwendungen bekommen haben. Das habe ich damals umgestellt und dafür gesorgt, dass die freien Mittel von nur ungefähr 60.000 Euro durch eine Jury vergeben wurden. So wurde es denkbar, dass wir durch das Ausschreiben der Projektmittel auch jüngere Leute animieren, für neue Arten von Literaturvermittlung Vorschläge zu machen. Das führte zu einigen Protesten und es kam gleichzeitig zu vielen Anträgen. Es hat aber nicht dazu geführt, dass sich die Szene weiter differenziert hat und dass viele neue Leute dazu gekommen wären. Natürlich ist neben den alten Literaturhäusern die Szene durch KOOKbooks und ähnliche Initiativen gewachsen. Es hat sich also schon etwas erweitert, doch es ist kein wirklicher Aufbruch passiert. Das finde ich sehr schade, weil ich denke, es würde noch mehr Möglichkeiten geben, etwas mit Literatur zu machen.
Litaffin: Kann sich die freie Szene der Literatur vielleicht etwas bei den Freien der anderen Sparten abschauen?
IW: Die Literatur ist eine stille Kunst, das hat man immer schon leicht zynisch gesagt. Die Autoren und Autorinnen sind, anderes als die Bildenden Künstler und Künstlerinnen schwer zu organisieren. Sind doch in ihrer Arbeitswelt relativ zurückgezogen. Es hat sich aber etwas verändert, dadurch dass sich die Koalition der Freien Szene gebildet hat. Vor allem die Darstellende Kunst und die Bildende Kunst sind hier voran gegangen mit Forderungen und Ideen.
Im Literaturbereich bildete sich im letzten Herbst eine Berliner Literaturkonferenz – dort sind die Freie Szene und die Einrichtungen miteinander vereint. Es gab ein erstes Treffen mit dem Staatssekretär und da war klar, dass sie versuchen, mit geballter Kraft etwas für die Literatur zu erkämpfen. Sie haben einen Sprecher gewählt, Moritz Malsch, von der Léttretage und dadurch ist die Literatur überhaupt präsent in der Koalition der Freien Szene, die allerdings schon seit ca. drei Jahren existiert.
Litaffin: Kämpfen Einrichtungen und Szene denn dann für dieselben Dinge?
IW: Die Einrichtungen sagen, sie würden gerne mehr Mittel haben, weil deren Zuwendungen seit 20 Jahren eingefroren sind. Damit ist der Inflationsausgleich nicht gegeben und auch die steigenden Betriebskosten sind dadurch nicht abgedeckt.
Die freie Szene wiederum besteht aus einer Hand voll Initiatoren und Aktivisten, die jetzt in den ganzen Debatten vor allem mehr Stipendien gefordert haben. Auch die Unterstützung in Sachen Arbeitsräumen wurde gefordert. Die Vorgehensweise hat sich politisiert, es entsteht eine Art Netzwerk; das ist eine Initiative aus der Lettrétage. Seit 2000 gibt es einen Beschluss im Abgeordnetenhaus, dass keine Institutionen mehr finanziert werden dürfen. Also müssen sich diese Aktivisten, dazu gehören die Lettrétage, KOOKbooks und andere, immerzu Drittmittel besorgen (EU-Mittel, Stiftungen, HKF) und sind dabei sehr erfolgreich. Das erleichtert aber natürlich die Arbeit trotzdem nicht, weil sie keine Strukturmittel haben, um Miete und Personal zu bezahlen. Nun versucht man über das Netzwerk eine andere Art von Institution zu schaffen, die zumindest als Träger für bestimmte Aktivitäten fungieren könnte.
Ich wünsche mir aber auch schon sehr lange eine Art gemeinsame Aktion von Einrichtungen und freier Szene inhaltlicher Art, denn ich sehe nicht, dass sie gut zusammen arbeiten. Doch es ist natürlich schwierig: Die Literatureinrichtungen haben ihr Personal und ihre Profilierung und versuchen, diese klar und deutlich zu manifestieren. Dadurch entsteht eine Art Konkurrenzsituation zwischen ihnen und der freien Szene, die aber durchaus fruchtbar sein kann.
Litaffin: Viele Einrichtungen, eine blühende freie Szene: Was lockt Künstlerinnen und Künstler außerdem nach Berlin?
Die Situation in Berlin ist darum so attraktiv, weil es eine sehr offene Stadt ist. Offen im Sinne von tolerant aber auch von geöffnet. Die Kulturszene ist sehr differenziert und findet ein sehr breites Publikum. Am Tag gibt es über 100 Lesungen in Berlin und die sind oft voll – das liegt an dem akademischen Publikum durch die großen Universitäten und es liegt natürlich auch an der Metropolensituation. Wir haben schon eine Vorbildfunktion für andere Städte und wir haben eben auch im Verhältnis ein riesengroßes Potenzial an Künstlern und Künstlerinnen hier. Es gibt keine andere Stadt in Deutschland, die ein so ausgeprägtes Freie Szene-Leben hat und es gibt auch keine andere Stadt, die so viel für die Freie Szene tut. Das sind gute Bedingungen für Künstlerinnen und Künstler, obwohl natürlich die Mieten weiter steigen.
Litaffin: Doch gerade die Mieten der Arbeitsräume und Ateliers sind ja eine echte Bedrohung für viele, die von Ihrer Kunst leben.
Wir haben jetzt durch den Kulturstaatssekretär Tim Renner eine fast historische Situation, weil er damit angetreten ist, die Freie Szene stark zu unterstützen. Eben weil sie solch ein wichtiges Kulturgut ist für Berlin. Und er will ihr nicht nur mit Stipendien helfen, sondern auch die Raumsituation, die immer bedrohlicher wird, anpacken. Dazu gab es schon eine ganze Reihe von Umfragen, Workshops und Meetings. Wir als Kulturverwaltung sind dabei, Möglichkeiten zu schaffen; der Haushalt wird auch entsprechend erhöht. Die Perspektive ist immer noch gut, auch wenn sie nicht mehr so gut ist wie kurz nach dem Mauerfall.
Litaffin: Welche Dinge gefallen Ihnen nicht im Fördersystem und was wollen Sie ändern?
IW: Ich würde gerne an die Verteilung der Töpfe gehen. Da gibt es das Problem der Einrichtungen, die zum Teil wirklich nicht gut finanziert sind. Auch die Festivals im Literaturbereich müssten besser finanziert werden. Ich sehe aber ebenfalls in den Jahren, in denen ich hier arbeite, dass Dauerförderung nicht gut ist. Ich bin für eine befristete Förderung und sage, wenn wir könnten, sollten wir die Einrichtungen evaluieren und sollten möglicherweise auch anderen, neuen Initiativen die Möglichkeit geben, in das System der strukturellen Förderung hineinzukommen.
Vielen Dank für das Interview!
Dr. Ingrid Wagner studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin. Im Anschluss war sie als freie Kuratorin tätig und unter anderem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste. Seit 1991 ist sie Teil der Berliner Kulturverwaltung, wo sie früher den Bereich der Literaturinstitutionen betreute und heute als stellvertretende Referatsleiterin für die Förderung von Künstlerinnen und Künstler, Projekten und freien Gruppen zuständig ist.
Litaffin sprach über dieses Thema auch mit Moritz Malsch von der Lettrétage. Hier geht es zum Interview.
- Vom Gewappnet sein und Kontrolle verlieren - 13. Dezember 2015
- Berlins freie Literaturszene: Im Gespräch mit Dr. Ingrid Wagner - 18. November 2015
- Berlins freie Literaturszene:Im Gespräch mit Moritz Malsch (Lettrétage) - 18. November 2015