Alles ist jetzt. Alles meint in Julia Wolfs Debütroman die Erinnerung an damals, die wie eine Gewitterwolke über der Protagonistin schwebt – und die jeder Zeit auszubrechen droht. Mögliche Auslöser hierfür sind ihre alkoholkranke Mutter oder der lieblose Vater. Aber Ingrid ist kein Mädchen mehr. Heute verdient sie ihr Geld in einer Live-Sexbar. Ihrem Schicksal ergeben, ziehen die drängend assoziativen Sätze sie immer weiter: vom Tresen auf die Bühne, auf die Knie.
Die Katze hat in die Küche gekackt. Mit Vorwürfen wie diesen startet der quietschgelbe Roman in den verknitterten Alltag von Bardame Ingrid. Nebenbei bemerkt ist Weihnachten, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass Ingrid Geschenke bekommt, ihre Freundin Jenny nicht. Also beschwert Jenny sich – ganze fünf Seiten lang. Das ist anstrengend und macht den Einstieg in den Roman mühsam. Am liebsten möchte man sich wie Ingrid unter der Bettdecke verkriechen und abwarten, bis alles vorbei ist. Aber alles ist jetzt und lässt sich nicht aufschieben. Also aufstehen, Augen auf und durch:
… sie (Ingrid) hat eine Strumpfhose gefunden, steht auf einem Bein, das erfordert Konzentration. Du hast kein Geschenk für mich, stellt Jenny fest. Ich liebe dich, sagt Ingrid, balancierend, über die Schulter. Es gerät etwas zu scharf, selbst für Jennys Geschmack. Oh Mann, sie (Jenny) schnappt Luft: Ich möchte mal wissen, warum du so verdammt schlechte Laune hast.
Ingrid arbeitet am Tresen einer schmuddeligen Bar und sieht ihren Kollegen tagtäglich bei seltsamen Sexverrenkungen zu, während sie Kunden bedient, die sie insgeheim anwidern. Zuhause gibt es keine Privatsphäre und zu ihren getrennten Elternteilen gab es nie eine Bindung. Es ist nicht verwunderlich, dass Ingrid schlechte Laune hat und auf die Vorwürfe ihrer Freundin mit Fluchtschlaf reagiert. Die Handlung ist müde. Aber dennoch liegt etwas in den Sätzen, das zum Weiterlesen drängt. Julia Wolf schafft es, jedes Wahrnehmungsdetail aus Ingrids Perspektive in die Handlungsabläufe aufzunehmen, ohne den Lesefluss zu stören. Und auch wenn es (gerade am Anfang) schwierig ist, sich mit Ingrid zu identifizieren, die wie ein Schatten hinter ihrer Vergangenheit herläuft, gibt es eine starke Identifikation in diesem Roman. Es gibt eine Identifikation mit der Sprache. Mit jedem Satz werden bekannte Bewegungen, Reflexe und damit verknüpfte Gedanken greifbar, die an eigene Beobachtungen erinnern.
Schwitzend kommt Ingrid zu Hause an. Das Rad lehnt sie gegen die Wand, das Rad rutscht langsam an der Hauswand hinab, noch ehe Ingrid an der Tür ist, fällt das Rad scheppernd zu Boden. Was kümmert´s Ingrid, sie muss mal.
Auch innerhalb der Handlung laufen einem vertraute Elemente über den Weg, wenn Julia Wolf von den bedauerlichen Alltagsszenarien in die Vergangenheit springt und von einer Jugend erzählt, wie sie – im wahrsten Sinne des Wortes – im Buche steht: Die kleine Schwester, der große Bruder und dessen bester Freund erleben den Sommer ihres Lebens. Der Sommer, in dem. Die Atmosphäre, die Wolf in diesen Erinnerungsepisoden vermittelt, hat einen Beigeschmack von Benjamin Leberts Crazy. Teenager sammeln erste Erfahrungen mit Drogen, Sex und Liebeskummer, bis der Sommer vorbei ist und man leider erwachsen werden muss. Was wie eine typische Coming of Age Story wirkt, wird stets durch den Sprung in die Jetztzeit gebrochen. So entfalten sich parallel zwei Geschichten: In der einen wird ein unschuldiges Mädchen unter Pferdepostern entjungfert; in der anderen wird vor Publikum gerammelt.
Die Bretter knarren, sonst ist alles still, Diskokugel, alles ist still, bis auf ein leises Schmatzen, das Klatschen von Mikes Eiern an ihrem Arsch.
Die Sprache ist mit enormer Präsens geladen und doch verliert sie in dem Moment, als Ingrid ihre Prinzipien am Tresen abgibt, jeglichen Glanz. So hat alles seine Konsequenzen. Der Eindruck, es gäbe hier keinen Zusammenhang zwischen den zwei Geschichten, weicht der Erkenntnis, dass das eine irgendwann zum anderen geführt hat. Und jetzt, da man begreift, was einmal war und was davon geblieben ist, geht es immer noch weiter. Wie beim Domino schubst Julia Wolf einen Satz an den darauf folgenden, bis schließlich alles in sich zusammenfällt.
ALLES IST JETZT Trailer from Julia Wolf on Vimeo.
Schnitt: Manuel Kappmeyer
Musik: Jean Szymczak
Idee und Realisation: Julia Wolf, mit freundlicher Unterstützung der Firma Rohfilm
© 2015 Julia Wolf
und hier geht es zum Interview mit Julia Wolf.
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