T.C. Boyle ist auf Deutschland-Tournee. In Berlin ist er diese Woche mit der Weltpremiere seines neuesten Romans Hart auf Hart aufgetreten. Dabei ist die englische Originalfassung The Harder They Come noch nicht einmal erschienen, obwohl sie schon seit 2013 fertig ist. Der Übersetzer Dirk van Gunsteren musste sich also gar nicht hetzen. Man ist sichtlich stolz bei Hanser, mit diesem Titel die Nase vorn zu haben. Und was für eine Nase!
Einige wenige Blogger- und BuchhändlerInnen dürfen in ganz kleinem Rahmen in den wunderschönen Verlagsräumen von Hanser Berlin mitfeiern; es ist eine besondere Ehre, “backstage mit Boyle” zu sein. Wer eine Ahnung hat, wie Parties aller Art in Amerika getaktet sind, mit ga
nz genauen Anfangs- und Schluss-Zeiten, der muss sich über die Geduld, Offenheit und Ausdauer des 66-jährigen auf dieser sicherlich anstrengenden Tour wundern. Er hat zur Verstärkung seine Tochter Kerrie mitgebracht, die Buchtrailer produziert und außerdem Buchhändlerin beim Indie-Laden Skylight Books in Los Angeles ist. Sie freut sich doppelt, wenn sich die Bücher ihres Vaters verkaufen.
Boyle rockt den Raum. Nicht als laute Röhre, sondern mit leisen, überzeugenden Tönen, als bedachter, sympathischer und extrem zugänglicher Celebrity-Autor in roten Chucks. Wenn es ums Geschichten-Erzählen geht, findet er sowieso kein Ende.
Er scheint sich für eigentlich alles zu interessieren. Auch wenn er behauptet, nicht wie ein Journalist zu arbeiten, hat er doch einen unglaublich guten Riecher dafür, große und kleine reale Ereignisse aus dem Weltgeschehen herauszupicken und erzählend zu verarbeiten. Die guten Geschichten, sie sind eigentlich alle schon da, sie passieren ja ständig im
richtigen Leben. Boyle bedient sich vom bunten Präsentierteller und schafft es immer wieder, aus den Zutaten das beste Rezept zu backen.
Er vertieft sich in ein Thema und ist begeistert, wieviel er beim Schreiben darüber lernen kann. Dabei betrachtet er die realen Personen, die Vorbilder seiner Figuren sind, lieber aus sicherer Ferne. Ihnen zu nahe zu treten wäre ihm nicht nur sehr unangenehm, es würde ihm den „Traum“, den er über sie hat, verderben. Viel lieber verlässt er sich auf seine Vorstellungskraft, versetzt er sich in ihre Lage. Er versucht, seine Figuren schreibend zu verstehen. Das können überlebensgroße Egomanen wie Kellogg, Kinsey and Frank Lloyd Wright sein, oder eben Menschen, die Gefahr laufen, als Verlierer der Gesellschaft zu enden. Was fühlen sie wohl? Warum fühlen sie so? Es geht nie darum, über ihnen zu stehen und sich womöglich über sie lustig zu machen.
Auf diese Weise entwickelt er Sympathie für die drei schwierigen, aber doch so menschlichen Hauptfiguren seines neuen Werks. Für Sten, einen 70-jährigen Vietnamveteran, der auf Kreuzfahrt überfallen wird und einen der Angreifer mal eben mit bloßen Händen erwürgt. Für Stens 25-jährigen schizophrenen Sohn Adam, der keine Hemmungen hat, von seinen Schusswaffen Gebrauch zu machen. Für die geschiedene 40-jährige Sara, Mitglied der Bewegung Sovereign Citizens, die jegliche staatliche Autorität ablehnt, und die mit Adam ein zwiespältiges Verhältnis beginnt.
Auf den ersten Blick werden hier eine Menge Klischees aus der Kiste gezogen: die amerikanischen Waffengesetze, die Gewaltbereitschaft, unberechenbare Amokläufer, wieder der Vietnamkrieg, aber auch der unbeugsame amerikanische Freiheitsgedanke. Und trotzdem: Boyle zieht uns hinein in den Sog seiner Erzählung und zieht uns atemlos hindurch. Denn er weiß nur zu gut, was Geschichten in uns auslösen, warum sie uns bezaubern, und dass wir sie lebensnotwe
ndig brauchen. Obwohl er selbst Geschichte und Literatur studiert und einen Doktor in Literaturwissenschaft hat, zieht er es vor, wenn es nicht zu akademisch zugeht. Als Dozent hat er kreatives Schreiben gelehrt, um seinen Studenten diese reine Freude an Literatur zu vermitteln. Lesen, so sagt er, ist eine großartige subversive Befriedigung.
Befriedigungen, die ein altehrwürdiger Rocker wie Boyle nur zu gut kennt. Er macht keinen Hehl aus seiner Affinität zu Sex & Drugs & Rock’n’Roll. Er gibt freimütig zu, dass er ein Süchtiger ist, und jetzt eben ein Schreibsüchtiger, und kaum hat er einen Roman fertig, kommt schon der nächste dran. Wenn er nicht der “Sklave des Hanser-Verlags” wäre, so scherzt er mehrfach, säße er jetzt in seinem Haus in den kalifornischen Bergen und schriebe bei Klassik und Jazzmusik an seinem neuen Roman weiter, der auch schon zur Hälfte fertig ist. Der Arbeitstitel lautet: Die Terranauten. Wieder greift er ein sehr amerikanisches, utopisches Thema auf: das Biosphären-Experiment in Arizona Anfang der 90er Jahre, wo vier Frauen und vier Männer zwei Jahre lang isoliert von der Außenwelt leben und ganz auf sich gestellt überleben sollten. Boyle findet das Thema in erster Linie sehr, sehr sexy. Über 100 Jahre sollte das Experiment laufen und scheiterte bereits nach zwei Jahren. Statt dessen plant man eben, den Mars zu besiedeln.
Boyle empfindet es als großes Wunder, quasi bewusstseinserweiternd in seine Themen einzusteigen und eine Erzählung daraus erschaffen zu können. Und ja, vielleicht sind da die Klischees, wenn Adam wie Rambo durch die Wälder rennt und unbedarfte Bürger abknallt, oder wenn das langsam alternde Country-Girl Sara, auf ihre Art naiv und skurril-sexy wie eine Doppelgängerin von Dolly Parton, ihr Auskommen als Pferdehufschmiedin hat. Es sind uramerikanische Mythen, die Boyle hier weiterspinnt. Es ist der Ersatz für die Legenden, die den Figuren (und uns) scheinbar abhanden gekommen sind.
Adam möchte nicht umsonst genauso hart sein, ja härter noch als sein Idol, der legendäre Trapper Colter, der unter übermenschlichen Anstrengungen vor den Blackfeet Indianern fliehen muss. Woraus sind Helden gemacht, woraus Pioniere? Boyle spricht von seiner Faszination mit Räumen, und seine Romane zeichnen ein Wechselspiel von Enge und Weite nach. Es ist die Sehnsucht nach den alten Frontier-Zeiten, als Räume noch unendlich schienen, unberührt und unentdeckt waren, als es noch möglich war, unauffindbar in einem Wald zu verschwinden, von dem heutzutage jeder Quadratzentimeter verwaltet ist und wo überall Grenzen gesetzt werden. Doch ohne Zufluchtsorte und Sicherheitsnetz scheint die Rückkehr zur Natur gar nicht mehr möglich. Da entsteht die Frage, ob es die derart empfundene Enge ist, die zu Gewalt führt.
Der letzte Satz des Romans greift die Sehnsucht nach der grenzenlosen Weite noch einmal auf. Immer drängt es über die Frontier hinaus: “Der Ball wurde getroffen, gut und voll getroffen, und es war kein großartiger oder auch nur guter Schlag, aber da flog der Ball, flog in einer gekrümmten Bahn hinauf in den großen, gewaltigen Ozean des Himmels und flog und flog.” Es ist zwar eine Szene der Resignation, aber vielleicht fliegt er ja doch noch bis zum Mars.
Die Publicity-Welle um den US-Autor nahm in den letzten Tagen ein geradezu gigantisches Ausmaß an. Nachdem Boyle geschlagene drei Stunden bei Radio Eins zu Gast war, hat er den 1.000 Personen fassenden Sendesaal des RBB in der Masurenallee zur live übertragenen Lesung gefüllt. Auf den Großauftritt folgte noch ein literarischer Ausklang im LCB. Die Veranstaltung wird am 28.März im Deutschlandradio übertragen. Er muss seine kleinen Anekdoten an die hundert Mal erzählt haben. Aber es geht nichts über das unermüdliche Erzählen, und auf der Bühne steht er gern. Der verpassten Musikerkarriere trauert er etwas hinterher. Bei all dem ist Boyle nicht abgehoben, er bleibt ganz nah dran an seinen Lesern, und die danken es ihm. “Hey man, great story!”
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