Wer nach diesem und jenem Verlagsstand die Halle 4 der Leipziger Buchmesse erreicht hat, ein bisschen kaputt, ein bisschen reizüberflutet, ein bisschen gedrängelt, entdeckt das Forum OstSüdOst. Hier ist seit drei Jahren schon das Leipziger Zuhause für Literatur aus Osteuropa: Weißrussland, Ukraine und Polen. Der Programmschwerpunkt „tranzyt. kilometer 2014“ will in seinem letzten Jahr wieder Messebesucher faszinieren und ja, auch an die Hand nehmen.
Kurator und Autor Martin Pollack arbeitete dazu gemeinsam mit der Buchmesse, der Robert-Bosch-Stiftung und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit ein Programm aus, das den Fokus auf Autoren, Texte und Märkte legt, die bisher noch sehr wenig Aufmerksamkeit bekommen. Dabei genießt die polnische Literatur im deutschen Sprachraum bereits sehr viel Ansehen, weswegen unser Nachbarland auch eher die Rolle einer Brücke eingenommen hat. Von einer „deutsch-polnischen Allianz“ sprach deshalb Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse, die der Ukraine und Weißrussland helfen soll, sich in unsere Netzwerke einzuklinken. In kleiner Runde, bestehend aus deutschen, belarussischen und ukrainischen Autoren und Journalisten sowie den Organisatoren, eröffnete er gestern die dritte Runde des Projekts.
„Wir haben uns nicht gewünscht, dass unser Programm so aktuell ist“, sagt Pollack. Die Ukraine hat in diesen Tagen eine Weltaufmerksamkeit anderer Art. Es sind Wochen und Monate der Unsicherheit und Instabilität – des Umbruchs. Und „tranzyt“ reagiert darauf. „Protestbewegungen“ heißt die dritte Veranstaltung an diesem ersten Messetag. Alle Plätze im Publikum sind besetzt, manche müssen stehen – das Thema funktioniert wie ein Besuchermagnet. Am Tisch sitzen Karolina Wigura aus Polen, Maryia Martysevich aus Weißrussland und der Ukrainer Vasyl Cherepanyn, allesamt in den 80er Jahren geboren und als Journalisten bzw. Autoren aktiv. Man merkt, es ist schwierig für alle Beteiligten hier in Leipzig einfach weiterzumachen. Weiterzureden. Über Literatur und Buchmärkte. Die Texte treten aus gegebenem Anlass ein wenig in den Hintergrund, die Brisanz der aktuellen Ereignisse auf der Krim und vor wenigen Wochen auf dem Maidan ist einfach zu groß. Doch die Veranstalter kriegen die Kurve und konfrontieren die Autoren mit Fragen zum Geschehen. Denn schließlich sind es gerade in Belarus und nun auch in der Ukraine viele Autoren, welche den Stein zu einer Veränderung ins Rollen gebracht haben. „Am Anfang stand das Wort – ein Journalist forderte auf, zum Maidan zu kommen“, erinnert Moderator Manfred Sapper. Tatsächlich bestand der Protest oder besser gesagt der Aufstand in der Ukraine zuerst aus Studenten, Autoren, Journalisten und wurde nicht von einer politischen Organisation initiiert. Auch Cherepanyn betont, „die Bürger selbst waren die treibende Kraft.“ Sie seien Motor gewesen und die politische Opposition sei im Vergleich geradezu auf der Strecke geblieben. „Man kann den Maidan nicht mit anderen Protesten vergleichen. Auf dem Maidan war es ein physisches Ausharren, also ein wirkliches Besetzen. Dies ist eine Revolution der Würde“, sagt Cherepanyn, Redakteur der ukrainischen Ausgabe der „krytyka polityczna“. Während Brüssel denke, die Ukrainer seien lediglich wegen des nicht unterzeichneten Assoziierungsabkommens auf die Straße gegangen, gebe es noch einen ebenso wichtigen Auslöser. In der Nacht vom 30. November 2013 sei eine Demonstration unter Gewalt aufgelöst worden. Hier sei die Verletzung der Würde geschehen.
Die polnische Soziologin und Journalistin Karolina Wigura sieht in den Ereignissen auch eine Veränderung in der Diskussion über die heutige Demokratie und betont die Wichtigkeit der ukrainischen Bewegung für alle Europäer. Doch trotzdem hat sie Zweifel. „Ich fürchte, dass auch diese Bewegung eingehen wird, denn sie hat dieselben Schwächen wie andere große Aufstände der letzten Jahre. Social-Network-Bewegungen haben immer eine schnelle Exit-Option.“ So rasant der Wille entflammt ist, kann er auch wieder erlöschen. Maidan habe keine neuen Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, sondern lediglich erfahrene Politiker gepusht. Dies sei die größte Herausforderung für den Fortbestand des Protests, sagt Wigura.
Auch noch am Messesamstag und -sonntag wird im Forum OstSüdOst weiterdiskutiert, beobachtet und vor allem gelesen. Gestern stellten bereits die ukrainischen Autorinnen Tanja Maljartschuk und Oksana Forostyna ihre Romane „Biografie eines zufälligen Wunders“ und „Duty free“ vor. Und auch die belarussischen Lyrikerinnen Vera Burlak und Maryia Martysevich waren schon im Forum bzw. auf den „Leipzig liest“-Bühnen zu Gast. Morgen liegt dann der literarische Fokus auf Polen und seinen Autoren Jacek Dehnel („Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya“) und Szczepan Twardoch („Morphin“).
Das vollständige Programm von „tranzyt. Kilometer 2014. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus“ kann HIER nachgelesen werden.
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