„Jeder Mensch hat seine eigene Farbe“, aber ausgerechnet Tsukuru Tazaki scheint völlig farblos zu sein. Farben spielen eine wichtige Rolle in Haruki Murakamis neuestem Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki – immer wieder wird der Hauptcharakter damit konfrontiert. Die dramatische Geschichte seines Lebens beinhaltet aber viel bedeutendere Themen. Was passiert, wenn deine Freunde dich plötzlich verstoßen, ohne dass du den Grund dafür erfährst? Wenn du am Abgrund stehst und nicht weiter weißt? Wenn du nach Jahren erkennst, welche Möglichkeiten du verpasst hast und dass sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt?
Ein Blick in seine Vergangenheit bringt uns Murakamis Protagonisten näher. Tsukuru ist in seiner Schulzeit Teil einer fünfköpfigen Clique, wie sie sich jeder Teenager nur wünschen kann. Seine vier Freunde sind Ao, Aka, Shiro und Kuro – benannt nach den Farben, die ihre Namen enthalten: Herr Rot, Herr Blau, Fräulein Weiß, Fräulein Schwarz. In dieser Hinsicht ist Tsukuru ein Außenseiter, denn sein Name ist völlig farblos. Und das überträgt er für sich auch auf seinen Charakter. Die unausgesprochene Regelung innerhalb der Gruppe ist der „Erhalt einer vollkommen harmonischen Gemeinschaft“. Umso überraschter und schockierter ist der 20jährige Tsukuru, als seine Freunde plötzlich jeglichen Kontakt zu ihm abbrechen. Er versteht die Welt nicht mehr. Nach dem Bruch lebt er ein halbes Jahr lang völlig isoliert und ausschließlich mit dem Gedanken an den Tod. Auch danach kehrt er nur noch gezwungenermaßen in seinen Heimatort zurück und bleibt so gut es geht einsam und allein in der Anonymität der Hauptstadt.
„Offenbar hatte er etwas an sich, das andere Menschen enttäuschte. Der farblose Herr Tazaki, sagte er laut. Im Grunde lief es darauf hinaus, dass er anderen nichts zu geben hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal sich selbst etwas zu geben.“ In der Erzählgegenwart ist Tsukuru Tazaki 36 Jahre alt, hat seine Faszination für Bahnhöfe zum Beruf gemacht und verliebt sich gerade zum ersten Mal ernsthaft in eine Frau. Sara erkennt das Problem, das tief in Tsukurus Psyche sitzt und ermutigt ihn dazu, dem quälenden Geheimnis aus seiner Jugend endlich auf den Grund zu gehen.
So begibt sich Tsukuru Tazaki auf eine Pilgerreise und konfrontiert seine ehemaligen Freunde, die er seit 16 Jahren nicht mehr gesehen hat. Auf das, was er erfährt, kann er sich absolut keinen Reim machen. Eine Vergewaltigung, ein grausamer Mord, Beschuldigungen und mysteriöse Erscheinungen – all das liest sich zwischenzeitlich wie ein Krimi, bei dem man die Auflösung nicht abwarten kann. Ein stechender Schmerz und die andauernde Schuldfrage sind Tsukurus ständige Begleiter, genauso wie Franz Liszts Années de pèlerinage (dt. Pilgerjahre). Immer wieder wird das Stück „Le mal du pays“ aus dem ersten Teil des Werkes, Première année: Suisse, im Roman „gespielt“, sodass man auch als Leser nicht umhin kommt, hinein hören zu wollen.
So schlicht und gleichzeitig ausdrucksstark wie das Stück ist auch der Grundton der Geschichte, mit disharmonischen Ungereimtheiten und starken Pointen. Murakamis einfache und schmucklose Sprache überzeugt wieder einmal und kommt in seinem neuesten Werk sogar (fast) ohne surreale Elemente aus. Die allgemeine Stimmung und viele kleine Details erinnern dabei vor allem an Naokos Lächeln – insbesondere die Auseinandersetzung mit Tod und Suizid. Aber es wäre wohl kein Murakami, wenn sich die Grenzen zwischen Realität und Traum nicht doch etwas verwischen würden. Gibt es böse Geister? Und wenn ja, wozu können sie einen treiben? Schnell stellt sich dabei eine gewisse Beklommenheit und Nachdenklichkeit ein. Vor allem denkt man auch über sein eigenes Leben nach. Wie würde man selbst reagieren? Wie fest steht man tatsächlich mit beiden Beinen im Leben? Und wie abhängig ist man von anderen? Neben den Themen Freundschaft und Liebe gewinnen Gedanken zu Existenz, Tod, Schuld und Schmerz mit der Zeit immer mehr an Oberhand. Die Wege der menschlichen Psyche bleiben unergründlich.
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag, Köln 2014. 318 Seiten. Gebunden. 22,90 €
Ursula Gräfe wurde mit Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki in der Kategorie Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Wer Interesse an Murakamis neuem Roman und den anderen Nominierten dieser Rubrik hat, sollte am 13. März die Leipzig liest-Veranstaltung im Literaturforum Halle 4, Stand E101 von 13-14 Uhr besuchen, wenn die Kandidaten vorgestellt werden.
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