Am 18. Januar wäre der Schriftsteller Arno Schmidt 100 Jahre alt geworden. Dem Feuilleton reicht das, um ihn mit Attributen wie Universalgenie, Radikalerneuerer oder Sprachzertrümmerer zu versehen. Dabei unterschlagen sie das Wesentliche. Denn Arno Schmidt war nicht nur der erste Hipster, nebenbei hat er quasi im Alleingang Twitter vorweggenommen.
Was genau ein Hipster ist, muss wahrscheinlich nicht mehr groß erklärt werden. Bloß was hat Arno Schmidt damit zu tun? Mal abgesehen davon, dass er eine Hornbrille, die schon in den 50ern uncool war, zu seinem Markenzeichen gemacht hat, war Schmidt ein absoluter Geek, Second Hand-Liebhaber und Kurznachrichtenfetischist. Aber fangen wir von vorne an. Eine unvollständige Biographie.
Bereits in früher Jugend entwickelt Schmidt ein ausgeprägtes Stil- und Distinktionsbewusstsein. Die Möbel im Elternhaus seien nicht nur aus zweiter, sondern aus vierter, sogar fünfter Hand, schwärmt er in seinem Tagebuch. Andere Kinder meidet der Individualist und beschäftigt sich lieber mit Themen wie Mathematik und alter Religion. Im Poesiealbum vermerkt er unter Hobbys: Austüfteln 10stelliger Logarithmentafeln.
Als 1933 Hitler nach der Macht greift, macht Schmidt sein Abi. Im Nachhinein ist es ihm hoch anzurechnen, dass er selbst in Zeiten des totalitären Grüppchenbildens nur geringe Unterwerfungskompetenzen beweist. In den Krieg muss er trotzdem, nach Norwegen. Später wird Schmidt mit hippem Understatement urteilen: eine einzige Zeitverschwendung.
Nachkriegszeit, Bio und Projekte
Als der Krieg vorbei ist, kann Schmidt sich endlich voller Hingabe seinen Projekten widmen, denen er verschwörerische Namen wie „Leviathan“, „Aus dem Leben eines Fauns“ oder „Seelandschaft mit Pocahontas“ gibt. Doch der Visionär eckt an. Egal ob CDU, SPD, DDR oder BRD, StGB und EVG – Schmidt übt Radikalkritik an der Nachkriegsgesellschaft und bleibt unbeugsamer Individualist. Eine Einladung der Gruppe 47 schlägt er in den Wind und fragt stattdessen, ob man dort eigentlich nur singen oder auch nackt vorlesen müsse.
Die gesunde Abwehrhaltung des progressiven Denkers gegenüber den reaktionären Spießern der Nachkriegszeit bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Schmidt fristet ein ärmliches Dasein, während unter Adenauer die fetten Jahre anbrechen. Doch seine Not verwandelt er in eine Tugend, er macht eine Low Carb Diät und geht in den Wald, um Pilze und Beeren zu sammeln. Eat that!, sagt er sich und schafft awareness für eine junge Ökobewegung, aus der später die Partei Die Grünen hervorgehen wird.
Vordenker der Social Media
Ende der 50er ist Schmidt ausgebrannt. Das quirlige Darmstadt ist ihm zu überlaufen, überall Poser, Nachahmer, angebliche Künstler, sogenannte Schrifsteller. So kann Schmidt nicht arbeiten. 1958 wagt er den Befreiungsschlag und zieht nach Bargfeld in Niedersachsen. Als erstes zieht er einen zwei Meter hohen, Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzaun um sein Grundstück. Dann herrscht Funkstille. Schmidt vergräbt sich in die Arbeit an einem monumentalen Projekt: dem Prototyp von Twitter.
Der direkte menschliche Kontakt schreckt den introvertierten Schmidt seit jeher ab, ständig tippend und schreibend kommuniziert er lieber über das soziale Medium seiner Zeit, dem gedruckten Buch. Leider hat @Schmidt nicht gerade viele Follower. Deshalb macht er sich daran das Buch zu revolutionieren. Sein Konzept: Schmidt verfasst Kurznachrichten, im Durchschnitt nicht länger als 70 Zeichen, auf kleinen Zetteln (Tweets), die er in einem Zettelkasten unter bestimmten Schlagworten (Hashtags) sammelt und durch Querverweise mit den Werken von Schriftstellern wie Edgar Allan Poe oder James Joyce verlinkt.
Da es 1970 noch keine digitalen Distributionsmedien gibt, veröffentlicht Schmidt eine Auswahl seiner besten Tweets analog unter dem Titel „Zettels Traum“. Wieder war er seiner Zeit weit voraus. Kleinlich mäkelt das Feuilleton „Zettels Traum“ sei unlesbar, mit 10 Kilogramm Gewicht viel zu schwer, mit 1334 Seiten viel zu lang und mit einem Preis von 298 DM viel zu teuer – eine historische Fehleinschätzung.
Am 3. Juni 1979 stirbt Arno Schmidt im Alter von 65 Jahren. Wenn er doch wirklich 100 geworden wäre, er könnte heute die Früchte seiner Arbeit mit uns genießen.
- Prosanova Tagebuch: Sonntag - 1. Juni 2014
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Der Link von Zettel´s Traum zu Twitter ist so gewagt, wie Schmidt´s Hakenschlag von Poe zu Po. Aber wen interessieren schon gerade Linien. Die Makroperspektive ist bei einem hundertjährigen Jubiläum wohl angebracht. In der Tat lässt die Verlinkungswut in Zettel´s Traum den Bewusstseinsstrom des Textes über die Ufer treten und stellt wie in den sozialen Medien einen Kontakt zur (literarischen) Welt, wenn auch nicht in real time her.
Etwas flüchtig, aber:
„Was genau ein Hipster ist, muss wahrscheinlich nicht mehr groß erklärt werden.“
Stimmt eigentlich, und hierzu ist mir ein ausführlicher und empfehlenswerter Artikel über die Herkunft des Hipsters aus New York Magazine:
http://nymag.com/news/features/69129/
Enjoy!