In Die Literarische Welt vom 24. März 2012 konstatiert Klara Obermüller: „In der deutschsprachigen Literatur geben immer mehr Autoren nichtdeutscher Muttersprache den Ton an“, und führt aus, dass die Werke der Autoren „nach einer völlig neuen Definition dessen verlangen, was unter deutscher Literatur zu verstehen ist.“ Die Gemeinsamkeit der Autoren bezieht sich vor allem auf die entfaltete Welthaltigkeit.
Welthaltigkeit bezeichnet die Auseinandersetzung mit globalen Themenkomplexen, wobei das „Globalisierte den Hintergrund bildet, vor dem die Partikularismen, das Lokale und Ortsgebundene, die Gedächtnisse für die verdrängten Einzelheiten einander begegnen und überkreuzen“ (Wilfried F. Schoeller „Reichtum der Fremde.“) Aus diesem Wechselspiel eröffnen deutschsprachige Autoren nichtdeutscher Herkunft neue Perspektiven, die sich eindeutiger Zuschreibungen (Klischees, Vorurteilen) entziehen. Die Autoren verleugnen weder die verlorene noch eine möglicherweise neu gewonnene „Kultur“, sondern versuchen beide (in der Literatur) aufzuheben. Aufhebung wird hier im doppelten Sinne verstanden: als Annahme und Überschreitung gleichermaßen.
Die nötige Grundbedingung für die Welthaltigkeit ist eine andere Form der Fremdheit. Der Begriff implizit die Fremdheit gegenüber sich selbst, der eigenen Sozialisation sowie gegenüber der „mitgebrachten“ und neu erworbenen Kultur. Die Begriffe Welthaltigkeit und Fremdheit bedingen also einander; sie sind zwei Seiten einer Medaille. Nicht nur wird das, was in der Welt passiert, für den Leser hierzulande erfahrbar gemacht, gleichzeitig wird auch das Bekannte, das „Heimische“ in einem neuen Kontext verfremdet dargestellt. Der irakische auf Deutsch schreibende Autor Abbas Khider literarisiert das ambivalente Verhältnis zur Heimat in seinem Debütroman „Der falsche Inder“ folgendermaßen: „Die Sehnsucht nach der Heimat wird im Laufe der Zeit schwächer. Je tiefer man im gegenwärtigen Leben in die Leere des Exils eindringt, desto mehr verblasst die geschönte Vergangenheit.“
In diesem Zusammenhang wird deshalb der Begriff der „kleinen oder ‚minderen‘ Literatur“ im Sinne von Deleuze und Guattari aktuell. Diese kleine Literatur weist drei charakteristische Merkmale auf: „Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung“ (S.27). Die Deterritorialisierung der Sprache bezeichnet den Prozess, wie beispielsweise Autoren mit „Migrationshintergrund“ sich die Sprache der Mehrheit aneignen, die Syntax verändern und Neologismen prägen, die ihrer Erfahrungswelt gerecht wird. Die politische Dimension scheint auf, weil in der Literatur per se der Einzelne als Angehöriger einer Minderheit in Relation, häufig in Opposition zur Mehrheit steht. Dadurch werden stets – explizit oder implizit – Herrschafts- und Machtverhältnisse der Gesellschaft berührt und zur Disposition gestellt, „wobei der Krieg nur deren augenfälligste Form darstellt,“ wie Thomas Lehr in seiner Antrittsvorlesung der Heiner-Müller-Gastprofessur bemerkt. Der kollektive Wert zeigt sich in der „Verschränkung des Nichtidentischen, der Verfremdungen, der Überlagerungen und des Transfers“ von Bekanntem und Unbekanntem, Innen- und Außenperspektiven. Im herkömmlichen Sinne gibt kein Subjekt mehr, sondern: „Es gibt nur noch einen einzigen Stromkreis von Zuständen, der sich, inmitten einer zwangsläufig vielfältigen oder kollektiven Verkettung, zu einem umfassenden Werden, einem Prozeß schließt.“ (Deleuze, Guattari „Kafka“ S.32). Als Analogie eignen sich die globalen Migrationsströme. Hier befindet sich der Einzelne in einem Zwischenstadium. Er ist weder in einer vertrauten Umgebung, noch dort wo er sein möchte, obwohl das eigentliche Ziel von Anfang an jenes ist, baldmöglichst wieder nach ‚Hause‘ zurückkehren zu können. Der (illegale) Migrant bleibt für sich, vermag aber nicht bei sich zu sein d.h. seine Individualität auszuprägen, weil er wie alle anderen die Strapazen der Flucht, die des Exils oder des Gastlandes zu bestehen hat. Alles was er tut, ist von Bedeutung und erhält Symbolcharakter. Gleichzeitig wird unter den Migranten kein selbstverständlicher Zusammenhang beispielsweise ein Gruppenbewusstsein oder Ähnliches hypostasiert.
Werden die Begriffe Welthaltigkeit und Fremdheit in die Literaturkritik eingeführt, dürfen neben einer klaren Definition, die jeweiligen ästhetischen Stilmittel nicht unerwähnt bleiben. Denn die gewählte literarische Form ist eine bewusste Reflexion in Bezug auf den Welthaltigkeits- und Fremdheitscharakter des Textes. Wird dies außer Acht gelassen, wird trotz des emphatischen Tenors der Blickwinkel auf die Autoren und ihre Bücher eingeengt. Und dadurch genau der Fehler begangen, der eigentlich vermieden werden sollte: Die Autoren werden (wieder) auf ihre „exotischen“ Geschichten reduziert und ihrer literarischen Qualität beraubt.
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