Anfang November fand wieder der open mike statt. Wie gewohnt im Heimathafen Neukölln und trotzdem anders als je zuvor. Wir lassen zwei Tage voller Inspiration und Kreativität Revue passieren.
Von Eileen Schüler und Julia Walser
2020 ist das Jahr der digitalen Veranstaltungen. Für die Literaturszene Fluch und Segen zugleich. Dass der wichtigste Literatur-Nachwuchswettbewerb im deutschsprachigen Raum, trotz des im November eingeführten „Lockdown light“, online am 07. und 08. November stattfinden konnte, hatten wir der fantastischen Umsetzung des open mike Teams zu verdanken. Statt wie sonst im Heimathafen Neukölln den 15-minütigen Beiträgen der Nachwuchsschriftsteller*innen zu lauschen, saßen wir nun alle zu Hause und streamten gespannt über die Webseiten des Hauses für Poesie oder den Social Media-Kanälen. Eine vom open mike Team eingerichtete und kuratierte Telegram-Gruppe ermöglichte einen herzlichen Austausch und literarische Diskussionen zwischen dem Publikum und den Nachwuchsautor*innen. Die 19 Finalist*innen werden von einem stetig wechselnden Lektor*innen-Team, in diesem Jahr aus über 600 anonymen Einsendungen, ausgewählt. Unter vier Preisen, die insgesamt mit 7 500 Euro dotiert sind, gingen in diesem Jahr zwei Preise an die Prosa und einer an die Lyrik. Die Debütlesungen, die normalerweise am Freitagabend stattgefunden hätten, wurden auf das nächste Jahr verschoben.
Von Kommunikation, Nähe und einer Tochter-über-Mutter-Perspektive
Zum Eingrooven auf den open mike hörten wir die Spotify-Playlist, die die Redaktion des open mike Blogs zusammengestellt hatte. In unserem Wohnzimmer machten wir es uns mit Tee und Keksen am Samstagnachmittag vor dem Laptop gemütlich und hörten den Video-Lesungen gespannt zu.
Den Anfang machte Thea Mengeler mit ihrem Romanauszug connect. Hierbei geht es um eine kleine Gruppe von jungen Menschen, die sich am Wochenende zu einem Workshop auf einem Flughafenfeld treffen. Das Handy wird in dieser Zeit ausgeschaltet, denn die Teilnehmer*innen sollen sich auf die Nähe und Kommunikation in der Gruppe konzentrieren können. Das Vertrauen wird gefördert.
Ich möchte euch ein Experiment vorschlagen. Sucht euch bitte einen Partner aus, den ihr noch nicht kennt. Und mit dieser Person teilt ihr etwas, was ihr sonst nur jemandem erzählen würdet, dem ihr absolut vertraut.
Die Protagonistin Ava bildet mit Marie ein Paar und sie lernen sich langsam kennen. Ein gemeinsames Lachen bricht die Schüchternheit etwas. Auch wenn hier nur das Setting beschrieben ist und wir letztendlich noch nichts genaueres über den Inhalt wissen, überzeugt der Ausschnitt durch seine ruhige und unaufdringliche Sprache und die kleinen Dialoge sitzen genau richtig. Gerne mehr davon.
Wie ein Schmetterling, denkt meine Mutter, hat sich der gelbe Badeanzug auf ihren Körper gesetzt und das perfekte Schlüsselbein freigegeben.
MIRMAR, heißt der Text von Josefine Soppa und dieser Titel klingt schon ein bisschen nach Ferne oder Urlaub. Allerdings geht es um eine Tochter, die über ihre Mutter erzählt. Am Anfang des Romanauszuges sind Mutter und Tochter noch zusammen und verdienen mit Buchungen ihrer Wohnungen etwas Geld. Als sie sich dann nicht mehr über Wasser halten konnten, erinnert sich die Erzählerin, war ihre Mutter in anderen Wohnungen als Reinigungskraft tätig. Von einem Programm wird sie aufgespürt und als Putzkraft für den Tourismusmarkt ausgeliehen. Die Mutter befindet sich dann irgendwo an einem Palmenstrand unter mehreren Frauen und fühlt sich doch allein. Soppa beschreibt alles in einer sehr bildhaften und metaphorischen Sprache, die eindrucksvoll im Gedächtnis hängen bleibt. Durch Soppas besondere Vortragsweise, die man sonst eigentlich von Poetry Slams kennt, wird dieses Merkmal noch verstärkt.
Am Sonntag wurde ihr Text mit einem Preis ausgezeichnet. Verena Günter begründete in ihrer Laudatio, er habe einen dystopischen, einen furchteinflößenden Sog ausgelöst und die Jury habe er damit gleichermaßen fasziniert und gefesselt.
Große Themen, kleiner Titel
Die erste Leserin am Sonntag gegen Mittag war Marie Lucienne Verse. Sie las ihren Text mit dem Titel Wohnungen. Ein Titel, von dem ich kribbelnde Bauchgefühle bekam. Wohnungen – damit traf sie einen Nerv und hatte meine volle Aufmerksamkeit. An Wohnungen denke ich im Moment auch viel. Jedoch meist in der Einzahl, nämlich an meine. Und an die Gefühle, die neu mit ihr verbunden sind. Ein Wort mit vielen Assoziationen, die sich in den letzten Monaten intensiviert und ausdifferenziert haben. Ich verbinde Wohnung mit Zuhause-Sein. Und so oft und unfreiwillig zuhause wie in diesem Jahr, waren die meisten von uns wohl noch nie.
Ich hörte Marie Lucienne Verse gern beim Lesen zu. Irgendwie passten für mich Stimme und Vorlesen ideal zu den Worten, die sie in die Kamera sprach. Ihr Vorlesen schien zum Text zu gehören, was keine Selbstverständlichkeit und an sich schon ein großes Talent ist. Beim Zuhören sah ich Bilder und hatte ein melancholisches Lächeln auf den Lippen. Ich wollte mitbekommen, was da gelesen wurde. Wohnungenist sechsmal aus- und siebenmal neu einziehen. Ein Text, gegliedert in verschiedene Räumlichkeiten, in denen sich das Fortschreiten der Zeit spiegelt. Wohnungen, das sind erst einmal einfach Flure und Zimmer mit Fenstern und Zubehör. „Kante an Kante“ und „überaus günstig“ in Wohnung zwei, die vierte schon beim Einzug „ausgestattet mit Toaster, Wasserkocher und Klimaanlage“ und die letzte, die sechste „über dem vietnamesischen Supermarkt ist schwer beladen mit Möbeln“. Orte, die so etwas wie ein Zuhause werden für die zwei Geschwister und ihre Mütter, die da wohnen und älter werden.
Marie Lucienne Verses Text verhandelt gleichermaßen das Alltägliche wie das Besondere. Die vierköpfige Familie geht über Türschwellen ein und aus, begegnet und umgeht sich zwischen Zimmern und Möbelstücken. Sie isst, redet, spielt, streitet, schläft, mal vor Erschöpfung, mal vor Müdigkeit. Sie zieht wieder um.
Leben und Alltag, geht es mir beim Zuhören durch den Kopf, wo liegt da eigentlich der Unterschied?
Und wenn die Geschwister erwachsen werden, die Bagger endlich von der Baustelle vor dem Balkon abziehen, dann nur, weil die Zeit vergeht und sich mit ihr alles verändert, meist schleichend, ohne dass der Alltag bricht. Wohnungenist ein Text, der unter die Haut geht. Er beschreibt Momentaufnahmen des Zusammenlebens so intim, dass man nicht drum herumkommt, sich in ihnen wiederzufinden. Alltag, das sind nicht nur Erledigungen und Listen, sondern auch Verletzbarkeit, Verluste und Momente des Glücks. Die Wohnungen im Text sind mehr als bloße Dächer über dem Kopf. Zu wohnen beinhaltet immer auch die Intention, sich ein Zuhause zu gestalten, Geborgenheit und Heimat zu suchen. Gemeinsam leben bedeutet auch, geteilte Erinnerungen zu konservieren, fürs Alter zum Beispiel. Die Stärke von Marie Lucienne Verses Text besteht darin, die Schönheit und Schwierigkeit dieser Prozesse aufzuzeigen. Indem sie vom Einfachen erzählt, wirft sie große Fragen auf. Was kann Heimat sein, wenn sich immer alles verändert? Wohnung sechs ist vom Warten bestimmt, auf die Geschwister, die, schon erwachsen, längst ausgezogen sind. Und immer zu früh wieder gehen. Woran sich noch halten, wenn da plötzlich so viel Ruhe ist? Am Ende war ich gleichzeitig traurig und voller Wärme. Traurig wegen der Endlichkeit und warm wegen den plötzlich alt gewordenen Müttern, die sich gegenseitig Heimat sind und bestehen bleiben entgegen der Zeit, die so vieles mit sich nimmt.
Corona auch im Text?
Zwischen den Blöcken 4 und 5 gab‘s kurz Zeit für den digitalen Austausch. Auch wir von LITAFFIN konnten dabei sein, als in der Pause zum Pressegespräch gezoomt wurde. Frage und Antwort standen Thomas Wohlfahrt (Leiter des Hauses für Poesie), Saskia Warzecha (Projektleiterin) und stellvertretend drei Lektor*innen der Vorauswahl: Helge Pfannenschmidt (edition AZUR), Tanja Raich (Verlag Kremayr & Scheriau) und Angela Tsakiris (DuMont Buchverlag).
Natürlich war sie auch beim Pressegespräch Thema: die Pandemie. Zurzeit beeinflusst sie ja denkbar alles, vom Verhalten in Supermärkten bis hin zur Anzahl Händewaschen pro Tag. Spiegelt sich Corona auch in den 600 Einsendungen, die die Lektor*innen für den diesjährigen open mike erreicht haben? Der größte Teil der Autor*innen müsste mindestens einen Lockdown erlebt haben. Ein Zustand, der sich – so viel ist ja schon bekannt – stark auf Körper und Geist auswirken kann. Kunst müsste da ein Ventil sein und helfen, das Erlebte versteh- und ertragbar zu machen. Dem Unfassbaren Worte geben. Die Antworten der Lektor*innen ergaben ein einstimmiges Jein. Auffallend waren die vielen apokalyptischen, naturfokussierten Texte. Natur, wild und unberechenbar. Eine Welt, mehr Heimat für Tiere und spezielle Pflanzenarten als Menschen. Dies könne sich zum Teil auf die Krise zurückführen lassen. Oder eher Krisen? Dass die Welt brennt, liegt nicht nur an Corona. Zudem gab’s vor Corona schon eine Tendenz zu dystopischen Szenarien in der Literatur, so die Lektor*innen, was sich nun verstärkt haben wird. Klar war das Urteil zu den Texten, die sich explizit mit Corona auseinanderzusetzen versuchten: zu voreilig. Literatur braucht ihre Zeit, um auf die Welt zu reagieren, damit Reflektion und Verarbeitung überhaupt möglich sind. Nur so entstünden gute Texte, Krise hin oder her.
Ein open mike ganz ohne den Zauber eines vollen, mitfiebernden Heimathafens – sieht so die Zukunft dieser Veranstaltung aus? Thomas Wohlfahrt kann sich das überhaupt nicht vorstellen. Für ihn bleibt das Format aus diesem Jahr eine dem Ausnahmezustand geschuldete Notlösung, auch wenn wir uns stetig an die Verlagerung ins Digitale zu gewöhnen scheinen. Der open mike braucht seine Zuhörer*innen, braucht die elektrisierende Stimmung im Raum, wenn die Autor*innen auf der Bühne lesen. Und das gemeinsame Feiern danach. Das sehen wir genauso. Der open mike fürs 2021 ist übrigens schon fast gesichert – dank der großzügigen Spenden der vielen Verlage, Buchhandlungen und Zeitschriften, die ihn auch dieses Jahr schon möglich machten.
Zu den Gewinner*innen…
Schon zum dritten Mal deckte sich einer von drei Jurypreisen mit dem Taz-Publikumspreis! Nail Doğan heisst der Glückliche, der mit seinen Gedichten gleich doppelt absahnte: Eine Veröffentlichung in der Taz und Lyrik-Preis der Jury. Ein weiterer Jury-Preis wurde an die schweizer Autorin Rebecca Gisler verliehen, die mit ihrem Romanauszug Hippobosca antrat. Die dritte Gewinnerin ist Josefine Soppa mit MIRMAR. Alle drei Preise der Jury sind mit je 2500 Euro dotiert.
- Ein Manifest für die Intuition - 6. Januar 2021
- 28. Open Mike 2020 - 15. November 2020