26. Open Mike 2018

Von Blutegeln, Geisterjagt und dem Suchen ohne Finden

Dämmerlicht, ein erwartungsvoll lauschendes Publikum, den Raum erobernde Lesestimmen – im November fand der 26. Open Mike statt. Wir geben den Texten noch einmal eine Bühne.

Publikumspreisträgerin Caren Jeß beim Vortrag ihrer schaurigen »Ballade von Schloss Blutenburg« © Mirko Lux

 

Die Lyrik hat den Kopf vorn!

Der Open Mike ist DER Wettbewerb für junge Literatur, ausgetragen im Berliner Heimathafen Neukölln. Veranstalter sind das Haus für Poesie und die Crespo Foundation. Der Preis gilt als eines der wichtigsten und wirksamsten Sprungbretter für den schriftstellerischen Nachwuchs. Das beweisen immer wieder erfolgreiche Gegenwartsautor*innen, an deren Karriereanfang nicht selten der Sieg beim Open Mike steht. Im Publikum tummeln sich Agent*innen, Verleger*innen und Lektor*innen, die entschlossen sind, sich ihre Favorit*innen gleich von der Bühne wegzuschnappen. Zwei Tage lang gibt es kostenlose, gutbesuchte Lesungen und jede*r Nachwuchsschriftsteller*in hat 15 Minuten Vortragszeit, um Publikum und Jury für sich und seinen*ihren Text einzunehmen. Am Ende werden dann von einem jährlich wechselnden Trio drei Jury-Preise vergeben und zusätzlich der taz-Publikums-Preis verliehen. Die 20 Finalist*innen werden von einem stetig wechselnden Lektor*innen-Team, in diesem Jahr aus über 500 anonymen Einsendungen, ausgewählt. Unter vier Preisen, die insgesamt mit 7 500 Euro dotiert sind, wurde beim 26. Open Mike dreimal die Lyrik belohnt – ungewöhnlich.

Jahrgangsfoto aller Teilnehmer*innen des 26. Open Mike © Mirko Lux

Die Jury, vertreten durch Kristine Kress, hat nicht mit eingestimmt auf den Abgesang der Literatur. Ein besonders starker Jahrgang sei es gewesen mit großem Potenzial, um den Stand der Literatur brauche man sich also keine Sorgen zu machen, so Kress.

„Die Welt verändert sich, wird immer komplexer, hoffentlich auch gerechter, sicherlich vielfältiger, und wir brauchen den spezifisch literarischen Blick, der das alles begleitet. Und dafür brauchen wir Autoren, die genau hinhören, die offen sind für das, was sie berührt, und dann auch nach Wegen suchen, das genauso auszudrücken, wie sie es ausdrücken wollen. Diese Durchlässigkeit setzt sich fort in Texten.“

Den Anspruch, den die Juror*innen an die eingesandten Texte gestellt haben, wird wahlweise mit den Schlagworten unbequem, überraschend, mutig, risikobereit, lebendig, geheimnisvoll, facettenreich und tiefgründig beschrieben – eine Formel, die in unseren Augen durchaus viele der vorgetragenen Texte bedienen. Andersherum ausgedrückt könnte man allerdings auch von einer Dominanz an experimentellen, gewollt sperrigen und inhaltsleeren, effekthascherischen und theatral inszenierten Texten sprechen.

 

Caren Jeß: »Die Ballade von Schloss Blutenburg« – was steckt dahinter? Marie hat sich an den verstörenden Gruselschocker herangewagt

Die Bilanz aus einem Wochenende voller Lesungen: viel Lyrik, viele Experimente und wir wollen mehr davon. Vier Leser*innen der taz vergaben den Publikumspreis an Caren Jeß‘ „Ballade von Schloss Blutenburg“, einem Text, der vor allem Ratlosigkeit auslöste. Eine berechtigte Entscheidung? Obwohl ihr Text fast verstörend wirkt, ließ Caren Jeß während ihrer Lesung unbestreitbar einen Funken überspringen. Wie viel der Wirkung ist ihrer großartigen Leseleistung zuzuschreiben, wie viel dem Text selbst? Versetzen wir uns zurück in den Vortrag, der den Open Mike mit einem Donnerwetter einleitete.

Caren Jeß betritt als erste Teilnehmerin die Bühne. Wer hier vorträgt, muss vollen Einsatz zeigen, um nur mit Stimme und Text den Saal zu überzeugen. Und das tut Caren Jeß dann auch. Gestikulierend, mit sich ringend, stellenweise die Luft anhaltend, trägt sie ihre höchst sonderbare Ballade von Schloss Blutenburg vor. Es tauchen Märchenfiguren vom Wolf über einen Sack voller Gänse und einen sprechenden Fisch auf. Dazwischen immer wieder Frauenrollen, die vom lyrischen Ich beobachtet oder verkörpert werden. Das Publikum ist fasziniert, kichert, lauscht teils abgestoßen und teils atemlos. Als die Autorin abgeht, ist unklar, was das eigentlich gerade für ein Text war.

Jeß‘ Ballade erzählt als solche tatsächlich eine Geschichte. Doch der Aufbau könnte nicht weniger dem herkömmlichen stringent-dramatischen Aufbau einer Ballade entsprechen. Szenen, in denen das weibliche lyrische Ich nachts allein vor den Mauern einer Burg herumsitzt, in einem Brunnen Blut findet oder Pommes aus einem Tümpel fischt, ekeln an. Doch der Text amüsiert auch. Über elf Strophen hinweg unterhält er, indem die Düsternis immer wieder durch skurrile Kommentare aufgelockert wird. Zwei Jogger, denen wir mitten in der Nacht begegnen, grüßen mit fröhlichem „Servus“, bevor sie ohne Zögern in den Schlosstümpel waten. Wie der Titel des Gedichtes ahnen lässt, wird vieles im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich komisch dargeboten. Denn es wird auch ganz klassisch schauerlich, wenn der Schrei eines Uhus durch die Nacht hallt.

Vortragstalent und Publikumsliebling: Caren Jeß mit der »Ballade von Schloss Blutenburg« beim 26. Open Mike 2018 © Mirko Lux

Ein Text, der Vieles sein will: unterhaltsam und zugleich abstoßend, schauerlich und schön. Mithilfe ihrer raumgreifenden Lesestimme gelingt es Jeß mühelos, diese gegensätzlichen Komponenten zu überbrücken. Doch jenseits des atmosphärischen Vortrages zerfällt der Text in Ungereimtheiten. Offenbar hatte die Autorin schlicht Spaß daran, Verrücktheiten aneinanderzureihen. Leser*innen öffnet der Text nur wiederwillig seine Pforten zum Verständnis. Was umständlich klingt, könnte dabei allerdings als Verweis des Textes auf sich selbst gelesen werden. Denn auch das lyrische Ich in der Ballade befindet sich nicht eigentlich auf Schloss Blutenburg, wie es beharrlich wiederholt, sondern vor den im Dunkeln fahl leuchtenden Schlossmauern. Es bleibt lediglich, ungezwungen durch den Text zu spazieren, um sich auf die Suche einem roten Faden, einem goldenen Lektüreschlüssel zu begeben. Oder den Worten der Autorin zu glauben, die im Anschluss an die Preisverleihung konstatiert, sie habe versucht: „stabile subjektive Weiblichkeit zu exponieren. Ich freue mich, dass die Message bei all dem Absurden und Albernen in der Ballade noch rüberkam.“ Dabei wirkt die hier verhandelte Weiblichkeit alles andere als subjektiv und stabil. Zwar lässt sich eine Vielzahl von Frauenrollen ausmachen, diese reichen aber von der heiligen Jungfrau Maria bis hin zum Auftritt des lyrischen Ich in der Tradition verführerischer Wassernixen, wie sie die Loreley und die Undine verkörpern: „Ich saß mit gespreizten Beinen am Tümpel, der dalag, flegmatisch und sumpfig und zog einen Fisch an Land.“ Es bietet sich ein solch buntes Potpourri an Weiblichkeitsentwürfen, dass man von allem reden möchte, nicht aber von einer Stabilität der Weiblichkeit.

Das Märchen vom Frau-Sein

Doch ein strukturierendes Instrument gibt uns das lyrische Ich dann doch in die Hand: seine Erwartungen. Während es die skurrilsten Geschehnisse unkommentiert lässt, wiederholt es rhythmisch zu Beginn jeder Strophe „Neulich nachts auf Schloss Blutenburg, ich hatte Gespenster erwartet, ich hatte blutende Gespenster erwartet, doch – da war nichts. Keine Gespenster.“  In den folgenden Strophen wandelt es diese Erwartungen ab in wahlweise feuchte, entertainende oder weise Gespenster. Während es sich allerdings so von der Abwesenheit jedweder Gespenster enttäuscht zeigt, geistert das lyrische ich selbst wie der personifizierte Spuk längst vergangener Frauenportraits durch die Ballade.

Schon in der ersten Strophe watet es wie eine Erscheinung nachts splitternackt durch den Schlosstümpel. Dem Wolf, dem es dann begegnet, versichert es, sie sei „nicht die Großmutter“. Sie scheint ihm dennoch zu schmecken. Glücklicherweise begnügt Isegrim sich mit ihrem Blut in der zweiten Verwertungsstufe. Er frisst die zwei , die sich im Schlosstümpel an die Beine der Erzählerin geheftet hatten. So bis auf das Blut ausgesaugt kommt, das lyrische Ich nicht nur in der Rolle der Großmutter aus Rotkäppchen daher, sondern insbesondere als Opfer. Offenbar handelt es sich um einen feministischen Text, dem die verschiedenen Frauenrollen, mit denen er hantiert, selbst wie ein Spuk erscheinen. Auch der zweiten Frauenfigur begegnen wir in einer solchen Position: jene zwei Jogger, die grüßend vorbeikommen, tragen um den Hals Kruzifixe, an denen nicht Jesus baumelt, sondern als Märtyrerfigur Maria.

Die abstrusen Frauenbilder können als eigentliche „verflossenen“ Gespenster des Gedichtes gelten. Jeß‘ Lyrik jongliert damit zwischen historischen und gegenwärtigen Vorstellungen dessen, was eine Frau tun oder sein soll. Diese Bilder werden nicht nur als Spuk und über die Gattung der Ballade als ein dramatisches Theater inszeniert. Sie scheinen das lyrische Ich zu „enttäusch[en]“, wie die Illustrierte, in der sie blättert. Tatsächlich mag manche Publikumszeitschrift mit Klatsch und Tratsch über Mode und Märchenprinzessinnen einen Schauer des Grusels, ja des Ekels auslösen – mehr noch als Jeß‘ Ballade.

Endlich spuckt dem lyrischen Ich der gespenstische Bote der Ballade, der Uhu, tatsächlich einen goldenen Schlüssel in die Hände. Der Einlass zum Verständnis scheint endlich ganz nah, als das lyrische Ich zwischen dem Davonfliegenden und den gespenstisch leuchtenden Schlossmauern hin und her sieht. Jetzt mit der Stimme einer Frau aus zeitgemäßen Werbespots fragt sie auf Englisch: „Thank you so much. What can I use it for?“. Ja, wofür nun diese kuriose Aufzählung von Frauen aus Mythen und Märchen, Frauen aus Illustrierten, Frauen aus belächelten und vergangenen Realitäten?

Dafür, dass all die angestauten Rollen letztlich über Bord geworfen werden. Das lyrische Ich versucht, sie locker wegzulachen, sie als das Märchen darzustellen, dass sie sind. Doch indem es von all jenen Bilder nicht nur traumartig, sondern auch trauma-artig begleitet wird, entlarvt sich der Versuch als unmöglich. Es ist nicht utopisch, vererbte, zugeschriebene und erwartete Rollen locker wegzulachen. Absurder aber als diese Idee, sind die hier verhandelten Rollen selbst.

 

Lenas Highlight am Sonntag: Katharina Goetze »Das Suchen nach dem Finden«

Dabeisein ist alles: Katharina Goetze geht beim 26. Open Mike 2018 ohne Preis nach Hause © Mirko Lux

In sehr präziser, verknappter Sprache, fast logbuchartig, erzählt Katharina Goetze in ihrer Kurzgeschichte »Das Suchen nach dem Finden« von einer Liebe, die man für charakteristisch in unserer globalisierten Zeit halten kann. Episodisch blickt man auf die Lebensstationen eines Ichs. Sich selbst für feministisch haltend, ist diesem Ich schon bei der Verlobung klar, dass es kein Lebenslang geben wird, dass es kein Lebenslang braucht in dieser Geschichte: „Wir sind jung und bedenkenlos, der Ring ändert das nicht“. Doch schon in der Hochzeitsnacht kann die junge Liebe nicht an ihre Erwartungen heranreichen und schon bald folgt eine Trennung über Kontinente hinweg: „Ich in Asien Praktikum, du in Afrika Revolution“. Geschildert wird durch die spotlichthafte Beleuchtung einiger Nächte im Leben dieser Protagonistin eine berührende Geschichte der Entfremdung, ein sich ausbreitendes Isolationsgefühl, während die Lebenskosmen und -anschauungen des jungen Paars immer weiter auseinanderdriften. Man schaut zu beim Zerbrechen von einer Beziehung und Idealen, trotz langem Festhalten an ihnen. Die Protagonistin lässt sich durch ihre Trauerphasen – „Als mein Vater starb, war er wenigstens tot danach.“ – unter anderem in Berlin, Budapest und dem Irak begleiten, bis sich unheilvoll das Motiv der Endstation im Text ausbreitet.

Was als individuelle Geschichte des Scheiterns und Verlusts daherkommt, ist bei näherer Betrachtung auch sehr welthaltig, geradezu symptomatisch für eine ganze Generation von hoch gebildeten, ehrgeizigen jungen Leuten, denen die Welt offensteht. Die weder zur Ruhe kommen noch sich wirklich festlegen wollen und sich so auf allen Kontinenten verstreuen und nie wirklich niederlassen. Sie laufen Gefahr, sich und ihre großen Überzeugungen aus den Augen zu verlieren. Von diesem Dilemma spricht Goetze mit sehr angenehmer Vortragsstimme auf sachliche Art, elliptisch verknappt, aber trotzdem berührend und zugänglich. Dabei blitzen gelegentlich Kitsch-Momente durch, die man ihr aber nicht nur verzeiht, sondern über die man sich auch heimlich und wohlig freut.

Das Allgemeine fällt ein in das Spezielle

Wirklich großartig angekündigt wird die Nachwuchsautorin durch den KiWi-Lektor Jan Valk, der den Blick des Publikums im Voraus weitet und auf Makrostrukturen von Leben und Literatur lenkt. Er fasst die Welthaltigkeit dieser Geschichte über das Suchen und die Sehnsucht nach dem Finden in einer Himmelskörper-Metapher. Bindungsenergien von Anziehung und Abstoßung bestimmen die Geschicke dieser Welt, alles ließe sich in Umlaufbahnen begreifen, die in der tragischen Logik des Um-sich-Kreisens und Nicht-erreichen-Könnens gefangen sind. Eine Welt von isolierten Körpern, aber mit Schnittpunkten auf ihren vorbestimmten Wegen. Diese zentrischen Kreisbewegungen lassen sich auf Goetzes Figuren wie auf die globale Realität anwenden und so bricht die Welt und eine treibende Kraft herein in die Kurzgeschichte der Debütantin. Das Scheitern dieses Paares, dieser zwei inkompatiblen Menschenwelten, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen, geschieht vor der Kulisse der Globalisierung: Dort wo ganze Völker auseinanderdriften und aufeinanderprallen und Staaten in Krisen, Kriege und Kämpfe verwickelt sind.

 „Du bist im Irak, das ist keine Metapher“

Die Suchbewegung erstreckt sich hier auch auf die Erkundung von Ich und Du, auf das Ausloten von Mensch, Position und Möglichkeit, dem Mut, das Ich für ein Wir aufzugeben, der Selbstverortung und – vergewisserung: „Wenn ich Angst habe, schreibe ich Listen.“ Die Verlusterfahrung wird von einer viel weitreichenderen und existenzielleren Sehnsucht nach dem Ankommen überstrahlt und am Ende bleibt lediglich ein Gefühl des Zuspäts mit der Spur einer Gewissheit: „Aber irgendwas wird schon kommen. Irgendwas wird schon sein.“

Katharina Goetze bedient sich einer klaren, präzisen und doch melancholischen Sprache, die immer wieder mal auch etwas blumig gerät. Straff wird erzählt, mit einem ordentlichen Zug. Der kommt gerade durch die fragmentarische Form zustande, die in ihren Lücken Platz lässt für eigene Überlegungen und Erfahrungen. Das refrainartige Wiederholungsmuster am Anfang eines jeden Lebenskapitels dieser Ballade – „Ich wache nachts auf…“ – setzt sich in den Leser*innen fest und klingt in ihnen nach. Nicht einmal das Ich taugt noch als Konstante, wenn man überall auf der Welt aufwachen kann, weil es, wie alles, den großen Veränderungen unterworfen ist.

Woran kann man sich also noch halten? An Literatur, finden wir, denn sie macht ein gutes Stück klüger!

Der Open Mike ist zu Ende gegangen. Traditionell begleiten rasche Besprechungen den bedeutenden Literaturwettbewerb für junge Autor*innen. Angesichts der Eile kann hier meist nur ein grober Überblick zu den Themen des Jahrganges gegeben werden. Die Texte selbst erhalten in der kurzen Zeit kaum die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Daher hat die LITAFFIN-Redaktion hier den Vorträgen, die uns besonders gefangen genommen haben, noch einmal eine Bühne gegeben.

 

Einen Überblick über die Teilnehmer*innen, sowie alle weitere Veranstaltungsrezensionen gibt es hier:

26. open mike 2018: Presseschau

 

Lena Stöneberg

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